Manchmal täuschen erste Eindrücke. Wer The Edge of Allegoria zum ersten Mal sieht, könnte meinen, es handle sich um ein harmloses Retro-Rollenspiel im Stil alter Game-Boy-Klassiker. Die pixelige Grafik erinnert stark an die frühen Pokémon-Generationen, gepaart mit einem Hauch von The Legend of Zelda. Doch schon nach wenigen Minuten wird klar, dass diese vermeintlich kindliche Fassade nicht mehr als ein Vorwand ist, um eine völlig andere Richtung einzuschlagen. Statt freundlicher Dorfbewohner und unschuldiger Abenteuer empfängt den Spieler eine Welt voller schräger Figuren, vulgärer Sprache und absurder Situationen. The Edge of Allegoria ist ein Spiel, das bewusst provoziert, Grenzen austestet und dennoch ein spannendes Rollenspielerlebnis bietet, das sich zwischen Nostalgie und bissigem Humor bewegt.
Gameplay und Mechaniken
Im Kern bleibt The Edge of Allegoria ein klassisches Rollenspiel mit rundenbasierten Kämpfen. Wer früher mit Pokémon oder anderen Genre-Vertretern vertraut war, wird sich sofort zurechtfinden. Der Spieler steuert seinen Helden in gewohnter Perspektive durch Städte, Dungeons und offene Gebiete, während die Kämpfe im typischen RPG-Stil ablaufen: Auf der linken Seite des Bildschirms steht die eigene Figur, auf der rechten die Gegner, darunter ein Menü mit Befehlen und Gegenständen. Der vertraute Aufbau vermittelt sofort ein Gefühl von Vertrautheit, doch die eigentliche Stärke liegt in den Details des Kampfsystems.

Anstatt Monster zu sammeln, wie es die Ästhetik zunächst vermuten lässt, dreht sich in Allegoria alles um Waffen. Dutzende unterschiedliche Werkzeuge, vom simplen Dolch über schwere Äxte bis hin zur Angelrute, können im Laufe des Spiels gefunden und eingesetzt werden. Jede Waffe verfügt über eine eigene Meisterung. Wird sie oft genug verwendet, geht ihre Fähigkeit dauerhaft in das Repertoire des Helden über. So entsteht ein System, das zum Experimentieren einlädt. Wer klug kombiniert, kann mächtige Synergien erschaffen, etwa indem eine Waffe Gegner anfällig für Blutungen macht, während eine andere die entsprechende Wunde vertieft und eine dritte zusätzlichen Schaden verursacht.
Diese Mechanik motiviert, immer neue Kombinationen auszuprobieren und die Kämpfe strategisch zu gestalten. Selbst gewöhnliche Begegnungen mit Goblins oder Minotauren können dadurch spannend bleiben, da sie nicht nur zum Stufenaufstieg dienen, sondern gleichzeitig helfen, Waffenfertigkeiten zu meistern. Im Gegensatz zu vielen Retro-RPGs fühlen sich Zufallskämpfe hier nicht wie störende Unterbrechungen an, sondern tragen aktiv zur Entwicklung des Charakters bei.
Neben den regulären Kämpfen begegnet der Spieler in regelmäßigen Abständen Bossen, die deutlich anspruchsvoller sind und gute Vorbereitung verlangen. Hier zeigt sich, wie wichtig es ist, die passenden Waffen und Fähigkeiten zur Hand zu haben. Verlorene Kämpfe führen allerdings nicht zu Frustration, da ein durchdachtes Schnellreisesystem eingebaut ist. Mit Hilfe eines tierischen Begleiters kann man jederzeit an bereits besuchte Orte zurückkehren. Diese Funktion spart viel Zeit und reduziert unnötiges Grinden, wodurch das Spiel zwar fordernd, aber nie unfair wirkt.

Präsentation und Atmosphäre
Optisch lehnt sich The Edge of Allegoria stark an die Ära der neunziger Jahre an. Die Farbpalette, die Sprites und die Perspektive wirken wie direkt aus den alten Handheld-Zeiten übernommen. Dabei setzt das Spiel bewusst auf Nostalgie und überzeichnet den Stil leicht, sodass die Grafik zwar vertraut wirkt, gleichzeitig aber einen augenzwinkernden Charme entwickelt. Die Figuren und Gegner sind detailreich gestaltet, auch wenn technische Grenzen bewusst imitiert werden, um den Retro-Look authentisch zu halten.
Der Soundtrack unterstützt diese Präsentation durch einfache, aber eingängige Melodien, die an alte 8-Bit- und 16-Bit-Kompositionen erinnern. Musikalisch wird kein orchestraler Anspruch verfolgt, vielmehr sorgt die reduzierte Begleitung für die richtige Atmosphäre zwischen humorvollem Slapstick und spannungsvollen Kämpfen. Besonders auffällig ist jedoch die Sprache im Spiel. Während die Optik an kindgerechte Abenteuer denken lässt, sind die Dialoge gespickt mit Obszönitäten, Drogenreferenzen und teils absurder Sexualkomik. Bewohner reden offen über den Sexhandel, diskutieren ihren Drogenkonsum oder beschimpfen den Spieler in einer Art und Weise, die man in einem Retro-RPG kaum erwarten würde.
Dieser Kontrast zwischen unschuldiger Optik und drastischem Humor ist bewusst gewählt und macht einen großen Teil der Identität des Spiels aus. Es erinnert stellenweise an die Art von Tabubrüchen, die South Park seit Jahrzehnten kultiviert. Nicht jeder Spieler wird mit diesem Stil etwas anfangen können, doch wer sich darauf einlässt, findet in Allegoria eine konsequent durchgezogene Parodie auf typische Genre-Konventionen.

Humor und Tonfall
Das Spiel lebt von seiner respektlosen Haltung gegenüber klassischen Rollenspielen. Schon die Eröffnungsszene nimmt gängige Klischees aufs Korn, indem sie das übliche „namenlose Held rettet die Welt“-Motiv ironisch verdreht. Immer wieder durchbricht The Edge of Allegoria die vierte Wand, kommentiert Genre-Konventionen oder spielt mit den Erwartungen der Spieler. Der Humor ist dabei alles andere als subtil, sondern bewusst derb, direkt und übertrieben.
Ob man darüber lacht oder nicht, hängt stark vom persönlichen Geschmack ab. Für einige mag der permanente Griff ins Vulgäre ermüdend wirken, andere werden gerade darin den Reiz sehen. Bemerkenswert ist, dass der Humor nicht nur als Dekoration dient, sondern auch eng mit den Spielmechaniken verwoben ist. Viele Waffen, Gegner oder Quests sind bewusst grotesk überzeichnet und sorgen für absurde Situationen, die immer wieder für Überraschungen sorgen.
Fazit
The Edge of Allegoria ist ein Spiel, das polarisiert. Auf den ersten Blick wirkt es wie ein unschuldiges Retro-RPG, tatsächlich steckt dahinter aber ein provokantes, bewusst unhöfliches Abenteuer, das sich über Genre-Konventionen lustig macht und dabei gleichzeitig solide Spielmechaniken bietet. Das Waffensystem mit seinen Kombinationsmöglichkeiten sorgt für Langzeitmotivation und verleiht den Kämpfen mehr Tiefe, als es die schlichte Präsentation zunächst vermuten lässt.

Wer ein ernsthaftes Rollenspiel sucht, sollte hier nicht zugreifen. Wer jedoch Lust auf ein experimentelles Indie-Projekt hat, das Nostalgie mit Respektlosigkeit mischt, wird in Allegoria ein Abenteuer finden, das sowohl durch seine Spielmechanik als auch durch seinen Tabuhumor in Erinnerung bleibt. Gerade Fans von Spielen, die sich selbst nicht zu ernst nehmen, dürften hier bestens aufgehoben sein. The Edge of Allegoria ist damit kein Meilenstein, aber ein unverwechselbares Erlebnis, das zeigt, wie viel Charakter ein kleines Indie-Rollenspiel entwickeln kann, wenn es sich traut, aus der Reihe zu tanzen.
- Plattform: Nintendo Switch (getestet), PC
- Publisher: CobraTekku Games
- Entwickler: Button Factory Games
- Genre: RPG
- Release: 11. September 2025
- USK-Freigabe: 18

Schon seit meinem dritten Lebensjahr bin ich leidenschaftlicher Videospieler. Angefangen hat alles mit dem Nintendo Entertainment System – seitdem begleitet mich die Faszination für interaktive Welten bis ins Erwachsenenalter. Heute verbinde ich diese Leidenschaft mit meinem Beruf: Als PR-Manager, freier Redner und Texter arbeite ich in der Games- und Medienbranche und betreue Projekte rund um kreative Köpfe und spannende Marken. Ein besonderer Schwerpunkt meiner Arbeit liegt im Management und in der Betreuung japanischer Videospielentwicklertalente, die ich auf Conventions und Events weltweit vertrete. Zu meinen persönlichen Lieblingsreihen zählen Metroid, Super Smash Bros., Super Mario sowie die Halo-Trilogie (1–3) – Klassiker.

