Anbei findet ihr Teil 2 unseres Interviews mit George R.R. Martin beim NIFFF in Neuchatel. Falls ihr Teil 1 noch nicht gelesen habt, findet ihr ihn hier.
GRRM: … Kein Mensch steht morgens mit dem Ziel auf, eine Heldentat zu vollbringen. Wir bezeichnen bestimmte Menschen als Helden, einen Polizisten oder Feuerwehrmann zum Beispiel. Diese Menschen können gerufen werden, um heldenhafte Taten durchzuführen, aber auch diese werden das nicht jeden Tag machen.
Viele Polizisten gehen durch ihre ganze Karriere, ohne als Held gefeiert zu werden. Sie arbeiten 40 Jahre lang und schreiben eben Strafzettel oder klären Fälle von Ruhestörung – und lösen keine Mordfälle oder retten jemanden vor drohender Gefahr.
Ich bin deshalb nicht sonderlich interessiert an Helden, da ich nicht glaube, dass es sie per se in dieser Form gibt, wie sie die Fiktion darstellt. Aber ich bin am Heldentum interessiert. Nehmen wir das Publikum hier. Der ein oder andere hat das Zeug dazu am Dienstag, ist aber am Mittwoch ein kleiner Scheißer. Das sind eben menschliche Wesen. Wir haben die Fähigkeit, Gutes zu tun, aber auch selbstsüchtig oder gierig zu sein. Wir alle haben Dinge getan, hoffe ich, auf die wir stolz sind, aber auch, wenn wir es zugeben können, Dinge, für die wir uns schämen.
Ich kann von mir behaupten, beides getan zu haben. Das sind die Themen, die mich an Menschen interessieren. Wir sind beeindruckende und faszinierende Lebewesen.
Menschen mit vielen interessanten Facetten und Widersprüchen, das sind die Charakterzüge, die ich erforschen möchte. Ich bin „Joe Hero“ oder „The Dark Lord“, der Dunkelheit über die Welt bringt … was für eine Stellenbeschreibung!
GentleGamer: Wir würden Ihnen gerne einige Begriffe nennen, und Sie sagen uns, was Ihnen dazu einfällt. Verlust, Desillusion, Nostalgie. In Ihren Geschichten ist sehr viel von Desillusion die Rede wie zum Beispiel bei Charakteren wie Sansa Stark, Cindy Blair. Nostalgie findet sich bei ihrem Charakter Kapitän Marsh aus ihrer Geschichte „Fiebertraum“. Sind Ihnen diese Themen wichtig?
GRRM: Ja, das sind sie. Ich denke diese Themen sind Grundzüge meiner eigenen Persönlichkeit. Ich bin der Überzeugung, dass wir sehr von der Umwelt, in der wir aufwachsen, geprägt werden. Manchmal sogar, bevor wir Dinge bewusst wahrnehmen können. Ich habe einmal einen Vortrag über meine Kindheit gehalten, ihr könnt ihn online nachlesen (SciFi-Convention 2003). Ich bin in sehr ärmlichen Verhältnissen in Bayonne, New Jersey, aufgewachsen. Als ich vier Jahre alt war, haben wir direkt an einem Dock (City Dock) am Hafen ein Haus für sozialschwache Familien bezogen.
Tag ein, Tag aus, sind große Schiffe aus der ganzen Welt im Hafen eingelaufen. Ich habe die Schiffe immer gerne beobachtet und habe mir vorgestellt, in diese fernen Länder zu reisen.
Was interessant ist, zu erwähnen: Ich habe im späteren Verlauf meines Lebens festgestellt, dass meine Mutter eine Irin war, eine Brady. Die Bradys waren früher einmal eine sehr bekannte und einflussreiche Familie in Bayonne und das City Dock, in dessen Nähe ich lebte, hieß früher einmal Brady‘s Dock, weil es von meinen Vorfahren erbaut wurde. Mein Urururgroßvater hatte dieses damals mit seiner eigenen Baufirma konstruiert. Er hat damals viele dieser Docks gebaut. Er hatte ein sehr großes Haus zwischen 3rd und 4th Street. Meine Schule war in der 5th Street. Ich bin also damals direkt von der „Lord Avenue“ aus in Richtung meiner Schule gelaufen; Lord Avenue hatte bereits damals schon einen faszinierenden Klang für mich. Jedenfalls lebten wir nicht in dem Haus meines Urururgroßvaters, da meine Familie ihr gesamtes Geld während der Großen Depression in den 30er Jahren verloren hatten.
Die Familienmitglieder begannen untereinander um Geld zu streiten; als der Patriarch starb begannen die übrigen Kinder um das verbleibende Geld zu kämpfen. Zu allem Überfluss ging dann auch noch die Firma bankrott, und der Dock wurde von der Stadt gepfändet, um Steuern zahlen zu können. Dabei wurde leider auch das große Haus zwischen der 3rd und 4th Street verkauft. Die Stelle, an der ich lebte, war früher das Gebiet eines alten viktorianischen Hotels. Gebaut wurde es in der Mitte des 19. Jahrhunderts und wurde bis in die 1920er Jahre betrieben. Es war in seinen besten Zeiten ein Ressort für die Reichen und Erfolgreichen der Zeit, es hätte direkt aus dem Roman The Great Gatsby stammen können.
Früher schwammen die Reichen noch im kristallklaren Wasser des Flusses. Als ich dort lebte war der Fluss bereits furchtbar verschmutzt. Man hätte darin nicht mehr schwimmen können, ohne sich danach Lepra einzufangen.
Jedenfalls lief ich zu meiner Schulzeit jeden Tag an unserem ehemaligen riesigen Anwesen vorbei, in dem meine Mutter gelebt hatte, und vor ihr mein Groß- und Urgroßvater. Inzwischen lebten andere Menschen darin und ich denke diese Erfahrung lehrte mich bereits früh, mit Verlust umzugehen. Ich denke auch, dass dieses Motiv viel mit den Charakterzügen von Daenerys Targaryen zutun hat, so wie sie die 7 Königreiche verlor. „All dies war einmal meins“, „Ich wäre der Herrscher“, „das hat alles mir gehört und nun nicht mehr „….. „wo sind meine Drachen?“ *lacht*, „um mein Haus und mein Dock zurückzuerobern“. Leider hatte ich keine Drachen.
Jedenfalls glaube ich, dass mich diese Geschichten über den Verlust in unserer Familie, die Tatsache, dass wir einst einflussreich und wichtig waren, und nun nur eine weitere arme Familie, sehr geprägt haben. Dieses Thema begleitet mich mein Leben lang und ihr könnt es auch in all meinen Geschichten finden. Charaktere, die zurückblicken, und an die „goldenen Zeiten“ denken.
Jeder denkt an „die gute alte Zeit“ mit einer gewissen Nostalgie zurück. Durch die Nostalgie machen wir die Vergangenheit prinzipiell besser, als sie vielleicht wirklich war. In manchen Beispielen war die Vergangenheit wirklich besser als die Zukunft.
Wenn man an das alte Rom zurückdenkt lebten die Leute unter gewissen Herrschern besser als danach. Die Menschen die unter Augustus lebten, hatten es wesentlich besser als die, die unter den kommenden Herrschern lebten.
GentleGamer: Das nächste Stichwort wäre „unmögliche Liebe“. Es ist hart in Ihren Geschichten zu lieben.
GRRM: Richtig … es ist hart, im richtigen Leben zu lieben, ist Ihnen das aufgefallen?
*lacht*
Es gibt einen Teil in mir, der vor allem in meinen frühen Zwanzigern hervorkam, der sehr romantisch veranlagt ist. Meine Arbeit in den ersten beiden Jahrzehnten meiner Karriere war auf zwei Wegen romantisch. Zum einen die Beschreibung ferner und entlegener Planeten sowie derer Umwelt, und dann natürlich noch die typische Romantik zwischen Jungen und Mädchen.
Vieles davon war natürlich beeinflusst von meinen Erfahrungen in dem Alter, wenn man nach der einen bestimmten Person sucht, mit der man zusammen leben und die man lieben möchte.
Selbst wenn man mit einem Menschen zusammen ist, ist man doch irgendwie alleine, weil wir eigenständige Individuen sind. Wir verfügen nicht über die Fähigkeit der Telepathie und wir können uns auch nicht geistig miteinander verbinden. Wir haben nur die Möglichkeit mit Worten unsere Gefühle auszudrücken. Wenn dann auch noch Sex hinzukommt, wird die ganze Sache noch komplizierter.
Das sind Themen, die mich interessieren, und die ich auch bereits eine lange Zeit in vielen meiner Geschichten erforscht habe und noch erforsche.
GentleGamer: In „Das Lied von Eis und Feuer“ haben auch einige Charaktere mit diesen Themen zutun.
GRRM: Zu einem gewissen Grad ja, aber es geschieht viel in „Das Lied von Eis und Feuer“. Das ist Ihnen vielleicht aufgefallen *lacht*.
GentleGamer: Kommen wir zu einem anderen wichtigen Thema. Frauen. In Ihren Geschichten gibt es viele starke Frauen. Sind Sie ein Feminist bzw. ein feministischer Autor?
GRRM: Wissen Sie, das ist eine Frage, die mir bereits mehrere Male gestellt wurde und ich gebe jedes Mal andere Antworten. In erster Linie denke ich, dass Frauen „Menschen sind.
In den 70er Jahren hätte ich sofort gesagt: „Ja, ich bin ein feministischer Autor“. Obwohl ich ein Mann bin. Ich bin kein Experte auf dem Gebiet, es gibt sicherlich Frauen und auch Männer, die sich mit dieser Thematik wesentlich besser auskennen als ich. Aber es gab wesentliche Veränderungen in der feministischen Bewegung seit den 70ern. Einige Frauen haben mir in den letzten Jahren gesagt, ich könne kein Feminist sein, ich dürfte diese Bezeichnung nicht für mich verwenden, da ich ein Mann bin. Männer könnten nur Verbündete sein und Frauen die Feministen.
In Ordnung, ich werde niemandem diktieren, welche Terminologie sie zu verwenden haben und ich möchte auch niemanden beleidigen, wenn ich mich als Feminist bezeichne. Falls es beleidigend ist, als Mann sich als Feminist zu bezeichnen, das weiß ich nicht.
Jedenfalls glaube ich, dass es Unterschiede zwischen Männern und Frauen gibt; diese halte ich allerdings für sehr gering im Vergleich zu den Gemeinsamkeiten. Unsere gemeinsame Menschlichkeit gibt uns mehr Dinge, die wir miteinander teilen, als die uns trennen und das versuche ich, in meinen Büchern wiederzugeben. Männer als auch Frauen verfügen über eine große Ansammlung verschiedener Persönlichkeiten. Manchmal werde ich gefragt: „Wie schreibst du Frauen?“.
Ich setzte mich dabei nicht hin und denke mir: „Ich schreibe nun eine Frau“. Ich schreibe Beispielsweise ein Kapitel über Brienne und denke mir: Was würde Brienne nun in diesem Fall tun? Genauso denke ich in den Kapiteln von Arya oder Cersei. Diese weiblichen Charaktere unterscheiden sich immens untereinander. Cersei reagiert ganz anders auf Situationen als Brienne. Die beiden haben eine ganz andere Vergangenheit, Umwelt und Weltanschauung.
Die Tatsache, dass sie ähnliche Geschlechtsorgane haben, sollte dabei nicht ihre Reaktion oder ihre Anschauung diktieren, sondern ihr Charakter. Und das versuche ich beim Schreiben – ich versuche Individuen zu schreiben und keine Geschlechter. Natürlich schreibe ich über Männer und Frauen oder in meinen anderen Geschichten über Werwölfe, Vampire oder Außerirdische.
Allerdings bleibt mein Vorsatz dabei gleich – ich schreibe Individuen. In einem Buch, das so umfassend ist wie „Ein Lied von Eis und Feuer“ , in dem ich eine ganze Welt erschaffe, die tausende Charaktere beherbergt, mit unterschiedlichen Geschlechtern, sexuellen Vorlieben, unterschiedlicher Herkunft und religiöser Überzeugung, ist es mir wichtig, auch hier überzeugende und glaubwürdige Charaktere zu erschaffen. Manchmal gelingt mir das besser, als andere Male.
GentleGamer: Sie sind dabei sehr erfolgreich
GentleGamer: Die nächsten Stichwörter sind Krieg und Gewalt. In „Ein Lied von Eis und Feuer“ gibt es logischerweise sehr viel Gewalt. Sie gehen mit diesem Thema sehr ernst um und nutzen die Gewalt nie aus Spaß. Gibt es irgendwelche Geschehnisse in Ihrem Leben, weshalb Sie mit Gewalt so umgehen; sagen wir zum Beispiel durch den Krieg in Vietnam?
GRRM: Wissen Sie, Gewalt ist ein zentrales Thema im Fantasy-Genre seit Tolkien und darüber hinaus. Ich denke, es ist ein legitimes Thema, über das man schreiben kann. Aber ich denke auch, es ist ein Thema von großer, wenn nicht sogar größter Wichtigkeit von allen. Es sollte nicht aus Spaß verwendet werden, weil es, zumindest für mich, nicht lustig ist.
Ok, man kann irgendwo über alles lachen, das will ich nicht abstreiten. Man kann sicherlich in allen Themen etwas lustig finden oder mit schwarzem Humor nehmen und ich mag diesen Humor auch. Allerdings …
Ich habe in den 80er und 90er Jahren, zehn Jahre für das amerikanische Fernsehen gearbeitet. Da wir ein normaler Fernsehsender waren, mussten wir uns verständlicherweise diversen Regularien unterwerfen. Neben sexuellen Handlungen versuchte der Sender vor allem die Gewalt herunterzuschrauben. „Wir möchten keine Gewalt in unserer Sendung, aber wir möchten jede Menge Action“ haben sie gesagt. Was ist Action? Die Fernsehsender würden euch sicherlich eine andere Definition geben als ich.
Blutlose Gewalt. Hitzige Verfolgungsjagden mit Fahrzeugen, die sich rammen, überschlagen und in Flammen aufgehen. Man sieht nie die verstümmelten Körper, schreiende Menschen oder den blutüberströmten Fahrer, der beim Crash eingeklemmt wurde und vor Schmerz aufschreit. Das ist die Seite der Action, die die Sender euch nicht zeigen möchten, da es euch verstören könnte.
Entschuldigt, aber ich denke, ihr solltet verstört sein. Meine Meinung hat sich diesbezüglich sehr gefestigt in den letzten Jahren. Ich bin gegen Action.
Wenn du eine Charaktergeschichte produzierst, ist das gut, macht „my dinner with Andre“ oder einen Woddy Allan Film. Wenn ihr aber einen Kriegsfilm dreht, dann zeigt den Krieg auch wie er ist. Krieg ist kompliziert. Die Wahrheit ist, wir mögen Krieg.
Die Geschichtsschreiber haben immer von der Herrlichkeit des Kriegs berichtet. Davon habe ich auch in „Game of Thrones“ geschrieben. Die scheinenden Rüstungen der Ritter und die wehenden Fahnen der Armeen. In einer tristen und braunen Welt waren plötzlich diese tapferen Männer mit ihren Fahnen, auf denen Adler, Löwen und Wölfe wehten.
Es liegt eine gewisse Schönheit in diesem Bild, eine unheimliche Schönheit. Wenn diese Armeen jedoch aufeinander treffen, dann bekommst du die abgetrennten Körperteile und die Blutlachen und die ganze Gewalt. Das ist der springende Punkt – man sollte beide Seiten des Kriegs zeigen und das ist das, was ich in meinen Werken versuche.
Passionierter Videospieler seit dem dritten Lebensjahr. Angefangen mit dem Nintendo Entertainment System zog sich die Leidenschaft bis ins Erwachsenenalter. Heute als PR-Manager, freier Redner und Texter unterwegs. Zu den Lieblingsreihen gehören Metroid, Smash Bros, Super Mario und Halo 1-3.
[…] Teil 2. […]