1995 erschien auf dem Super Famicom ein Spiel, das bis heute als einer der Pioniere des Survival Horrors gilt. Clock Tower, entwickelt von Human Entertainment, war kein Actionspiel, kein blutiger Splatter, sondern eine stille, beklemmende Studie über Angst. Ein Spiel, das nicht durch Schockeffekte, sondern durch Stille und Ungewissheit fesselte. In einer Zeit, in der Jump’n’Runs und RPGs den Markt dominierten, war Clock Tower ein mutiges Experiment, eines, das seiner Zeit weit voraus war.

Eine unheilvolle Adoption
Die Geschichte beginnt mit der jungen Jennifer Simpson, einem Waisenmädchen, das zusammen mit drei weiteren Mädchen von der wohlhabenden Familie Barrows adoptiert wird. Kurz nach ihrer Ankunft im imposanten Herrenhaus, das wie ein Alptraum aus der Feder von Gothic Romanautoren wirkt, verschwinden ihre Freundinnen spurlos. Was folgt, ist kein typisches Abenteuer, sondern ein Überlebenskampf voller Hilflosigkeit. Jennifer muss das Herrenhaus erkunden, Hinweise finden und entkommen, während sie von einem unheimlichen Wesen verfolgt wird: Scissorman, einem deformierten Jungen mit einer übergroßen Schere.
Das Spiel erzählt seine Geschichte bedeckt und leise. Es gibt kaum Musik, kaum Dialoge, nur das Echo von Schritten, das Tropfen von Wasser und das metallische Klirren der Schere. Diese Reduktion auf Atmosphäre war 1995 etwas völlig Neues. Clock Tower verzichtet auf Waffen oder Kampfsysteme. Jennifer kann sich nicht verteidigen. Sie kann nur fliehen, sich verstecken und hoffen, dass Scissorman sie nicht findet. Diese Hilflosigkeit ist der Kern des Horrors den Capcom Jahre später und noch heute in ihren Resident Evil Titeln wiederholt.
Inspiration aus Dario Argentos Alptraumwelt
Die Inspirationen von Regisseur Hifumi Kouno sind deutlich. Besonders die Filme von Dario Argento, allen voran Phenomena (1985), in dem ebenfalls ein junges Mädchen in einem abgelegenen Internat mit grauenhaften Ereignissen konfrontiert wird. Jennifer Connelly, die Hauptdarstellerin des Films, diente nicht nur als Namensvorlage für die Protagonistin, sondern auch als visuelles Vorbild. Die Ästhetik von Argentos Filmen, das Spiel aus Licht und Schatten, die groteske Schönheit des Grauens, findet sich in fast jeder Szene des Spiels wieder. Selbst die Musik erinnert stellenweise an den Stil von Goblin, Argentos Haus und Suspiria.

Clock Tower überträgt diese filmische Atmosphäre meisterhaft ins Interaktive. Jeder Raum ist sorgsam komponiert, jede Perspektive erzählt eine Geschichte. Das Spiel verwendet feste Kamerawinkel und Point and Click Steuerung, wodurch es fast wie ein interaktiver Horrorfilm wirkt. Während spätere Spiele wie Resident Evil oder Silent Hill ähnliche Mittel nutzten, war Clock Tower das erste, das sie in dieser Form kombinierte.
Gameplay – Weniger ist mehr
Clock Tower ist grob genommen ein Point and Click Adventure. Spieler bewegen den Cursor über den Bildschirm, untersuchen Objekte und lösen Rätsel. Doch anders als klassische Adventures steht hier nicht das Knobeln im Vordergrund, sondern das Überleben. Wird Jennifer von Scissorman entdeckt, beginnt eine Fluchtsequenz. Panisch klickt man auf Türen, Schränke, Vorhänge irgendwo muss sich doch ein Versteck finden. Verharrt man zu lange oder ist das Panikmeter (in Form von Jennifers Portrait links unten am Bildschirmrand) zu hoch wird man von Scissorman erwischt und es heißt DEAD END.
Das Spiel nutzt ein Paniksystem, das Jennifers Angstzustand visuell anzeigt. Je stärker sie verängstigt ist, desto unsicherer werden ihre Bewegungen. In Panik stolpert sie, bleibt stehen oder fällt. Dadurch kann der Spieler spüren, was Jennifer fühlt. Ein genialer Kniff, der Atmosphäre in Mechanik übersetzt.
Die Steuerung mag aus heutiger Sicht sperrig wirken, aber sie unterstützt die Spannung. Jeder Klick ist eine Entscheidung. Öffne ich die Tür? Laufe ich in diesen Raum? Das Spiel zwingt zur Vorsicht und belohnt aufmerksames Beobachten. Es gibt mehrere Enden, abhängig davon, welche Entscheidungen man trifft und wie gründlich man das Herrenhaus erkundet. Aufgrund des Randomizers des Spiels könnt ihr euch auch nie sicher sein wo oder wann Scissorman auftaucht. Ist er im letzten Spielverlauf durch die Decke oder aus einer Kiste gekommen? Kann es gut sein, dass er diesmal dort nicht auftaucht und euch eher in der Badewanne oder dem Pool auflauert.

Optik und Sound – Horror im 16 Bit Gewand
Trotz seiner pixeligen Präsentation erzeugt Clock Tower eine bedrückende Stimmung. Die Hintergründe sind detailliert gezeichnet und voller subtiler Details, die man beim ersten Durchlauf leicht übersieht. Das Herrenhaus wirkt lebendig, obwohl es leer ist. Schatten flackern, Türen knarren, und das Licht flimmert, eine technische Meisterleistung für das Super Famicom.
Besonders hervorzuheben ist der Einsatz von Sounddesign. Das Spiel arbeitet mit Stille als Spannungselement. Statt Dauermusik hört man das Tropfen von Wasser, Wind in den Korridoren oder Jennifers hastigen Atem. Erst wenn Scissorman auftaucht, erklingt eine hektische Melodie, die sofort Panik auslöst. Diese akustische Dramaturgie war für damalige Verhältnisse außergewöhnlich effektiv.
Ein Spiel, das seiner Zeit voraus war
Clock Tower war kein Verkaufshit in Japan und erschien ursprünglich nie im Westen. Erst durch Fanübersetzungen und später durch Ports auf PlayStation und PC wurde es einem größeren Publikum zugänglich. Dennoch hat es Spuren hinterlassen. Spiele wie Haunting Ground, Rule of Rose oder die späteren Clock Tower 3 Teile schulden diesem Debüt ihre Existenz. Auch der heute wieder beliebte Trend zu psychologischem Horror im Indie Bereich geht auf die Ideen von Human Entertainment zurück.
Mit dem jüngsten Rerelease von Clock Tower Rewind auf modernen Plattformen, inklusive neuer Übersetzung und dezent überarbeiteter Optik, erhalten heutige Spieler endlich die Möglichkeit, diesen Klassiker in zeitgemäßer Form zu erleben. Doch die Fassung von 1995 bleibt die reinste. Kein anderer Teil der Reihe vermittelt so eindrucksvoll das Gefühl, allein, schwach und gejagt zu sein.

Fazit – Ein stiller Schrei im Pixelmeer
Clock Tower ist kein Spiel, das man „durchspielt“. Es ist eines, das man erlebt. Ein psychologischer Albtraum in 16 Bit, inspiriert von italienischem Giallo Horror und getragen von einer bedrückenden Atmosphäre, die bis heute einzigartig ist. Wer den Ursprung des Survival Horrors verstehen will, muss hier beginnen. Mit 9 verschiedenen Enden habt ihr auch reichlich Motivation das Spiel immer wieder von vorne zu starten. Erfahrene Spieler können das Spiel in gut 30 Minuten durchspielen.
Es ist die Art von Spiel, die zeigt, dass Angst nicht von Monstern kommt, sondern von Stille, Erwartung und der Erkenntnis, dass man nichts tun kann, außer hoffen.
- Plattform: Super Famicom (getestet), PlayStation, PC
- Publisher: Human Entertainment
- Entwickler: Human Entertainment
- Genre: Survival Horror
- Release: 14. September 1995
- USK-Freigabe: –

Schon seit meinem dritten Lebensjahr bin ich leidenschaftlicher Videospieler. Angefangen hat alles mit dem Nintendo Entertainment System – seitdem begleitet mich die Faszination für interaktive Welten bis ins Erwachsenenalter. Heute verbinde ich diese Leidenschaft mit meinem Beruf: Als PR-Manager, freier Redner und Texter arbeite ich in der Games- und Medienbranche und betreue Projekte rund um kreative Köpfe und spannende Marken. Ein besonderer Schwerpunkt meiner Arbeit liegt im Management und in der Betreuung japanischer Videospielentwicklertalente, die ich auf Conventions und Events weltweit vertrete. Zu meinen persönlichen Lieblingsreihen zählen Metroid, Super Smash Bros., Super Mario sowie die Halo-Trilogie (1–3) – Klassiker.

